Hallo an alle!
@Hildegard:
Ein Rezeptbuch: Traum A bedeutet B finde ich persönlich problematisch ...
Ja, die Rezept- und Symbolbücher finde ich auch fragwürdig. Jedenfalls diejenigen, die die
Symbole nicht herleiten und keine Gründe für die Deutung angeben. Ich habe oft den
Eindruck, die beschriebene Bedeutung hängt nur vom "Richtigkeitsgefühl" des Autors ab -
ohne wissenschaftliche Grundlage.
Zudem kommt, dass komplette Listen unreflektiert übernommen werden. So tauchen Symbol-
bedeutungen an mehreren Quellen auf. (... was sie natürlich nicht "wahrer" macht, uns dies
aber suggeriert.)
@Hildegard
... denn ich kann dann auch schnell etwas rein interpretieren.
Sehe ich auch so. Deshalb handhabe ich persönlich es so, dass ich "formale Übersetzungsarbeit"
mache. Ich führe die Symbole auf die Inhalte des kollektiven Unbewussten zurück. Dessen
Symbolik lässt sich mit einiger Sicherheit beweisen, und ist (nach allem was wir wissen zumindest)
allgemeingültig. In dieser Phase lasse ich den Patienten und mich (so gut das eben geht) aussen vor.
@Hildegard
... da würde ich eher fragen: welche Bedeutung hat der Westen für Sie?
@Pia
Welche Erfahrungen hat der Klient mit den Himmelsrichtungen gemacht?, welche
Assoziationen hat er dazu bzw. zum Thema Himmelsrichtung an sich?
Verstehe ich das richtig, ihr meint die individuelle Einschätzung des Träumers liefert einen
gültigeren Hinweis, als die Bedeutung aus der kollektiven Psyche? Okay.
Die Erkenntnisse aus diesem Erfahrungaustausch hier werden mein Bild von der Traumarbeit
beeinflussen und deshalb auch in meine Seminare und Bücher einfliessen. Damit man mir nicht
schlampiges Arbeiten vorwirft, muss ich penibel zwischen "Meinung" und "Erfahrung" unter-
scheiden. Darf ich euch deshalb fragen, ob es eure Meinung ist, oder ob es Erfahrungen sind,
die euch eher nach der Assoziation des Träumers fragen lassen. (Und falls Erfahrungen - welche?)
Ich bin interessiert, auch eure Meinungen zu hören, ausdrücklich sogar. Denn Meinungen sind
ja nicht automatisch weiter weg von den Fakten, nur weil sie nicht durch eine Messreihe belegt
sind. Und zweitens möchte ich herausbekommen, warum der Traumanalyse in der Öffentlichkeit
so sehr der Geruch von Esoterik und "Goldene-Blatt-Psychologie" anhaftet.
@Pia
Indem der Patient seinen Traum berichtet, wird dieser bereits "verzerrt" - er erinnert sich
nur an Bruchstücke, deutet etwas unbewusst und färbt dadurch seine Erzählung, er
vermischt Phantasie mit tatsächlich Geträumtem und ergänzt seine "Traumgeschichte"
etc....ebenso blendet er manches aus..... das ist z.B. eine Schwierigkeit.
Stimmt, ja. Jetzt wo' du sagst ... Ich fürchte ich bin anfällig dafür dem Klienten alles
zu glauben, wenn er einen Traum berichtet ... Danke für die Supervision!
@Pia
Deshalb wäre es für mich spannend, etwas konkreter zu erfahren, wie die Arbeit mit
Träumen bei dir aussieht, und was für Erfahrungen du damit gemacht hast
Danke für das Interesse. Wie ihr bestimmt schon gemerkt habt, hör' ich mich gerne
reden, also los...
Meine Erfahrung ist, dass psychosoziale Komponenten besonders gut mit Traumarbeit
zu erkennen sind. Ich meine das so:
Seelisch befinden wir uns immer in dem Konflikt zwischen "dem was wir wollen" und
"dem was wir müssen."
Wir "wollen" weil wir einen Körper, Gefühle und Bedürfnisse haben. Weil wir aus der
Natur hervorgegangen sind, und unser genetischer Bauplan eben eine bestimmte
Natürlichkeit verlangt. (Damit Körper und Seele am Leben bleiben.)
Wir "müssen" weil die Leistungsgesellschaft Anforderungen an uns stellt. Und unser
Gewissen, weil es uns mit einem "schlechten Gewissen" bestrafen kann, wenn wir uns
nicht an die Gesellschaftsregeln halten. (Daneben gibt's evtl. auch noch ganz reale
Schwierigkeiten, sich die Brötchen zu verdienen.)
Das Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen ist bei Burn-Out und Depression oft
sehr ausgeprägt, so meine Beobachtung. Die Träume (genauer: die Träume aus der
kollektiven Psyche), haben hauptsächlich dieses Spannungsfeld zum Thema. Sie zeigen
(m. E. geradezu perfekt) den aktuellen Standpunkt zwischen diesen beiden Polen, sowie
seelische Ressourcen, Fähigkeiten, Stärken, Abwehrmechanismen u.s.w dieser beiden
seelischen Bereiche. Wenn wir also Träume anschauen, erkennen wir, wo die Überlastung
herkommt (z.B. "innere Antreiber", Leistungsgedanken, Perfektionismus, Autoritätsangst ...),
und ob (und wenn ja, welche) Strategien vorhanden sind, der Überlastung zu begegnen.
Auch bei "Sinnfragen" und unspezifischen Lebenskrisen hilft es, die Träume unter diesem
Filter zu betrachten. Oft kommt heraus, dass gesellschaftlich geformte Gewissensinhalte
einen seelischen Konflikt verursachen.
Weniger Information liefern Träume nach meiner Erfahrung bei Beziehungsproblemen. (Es
sei denn das Problem resultiert aus konträren Lebenseinstellungen - einer ist "natürlich",
einer ist "leistungsorientiert". Das können Träume sehr gut aufzeigen.)
Auch interessant:
Gar nicht mehr tauchen Freud'sche Träume auf, also Träume die mit verschlüsselten Symbolen
eine unterdrückte Sexualität kompensieren. Schon lange hat mir niemand mehr erzählt er hätte
mit Rotkäppchen im Wald längliche Pilze in einen ovalen Korb gesteckt. Als ich vor 30 Jahren
mit Traumarbeit angefangen habe, habe ich solche Träume noch beobachtet.
Ich frage aktiv nach Träumen und gebe auch als "Hausaufgabe", Träume aufzuschreiben.
(Wenn die Bereitschaft da ist, natürlich nur.) Ich habe festgestellt, dass bestimmte Menschen
über "Erkennen" Zugang zu ihrem Erleben haben. Denen hilft es, wenn sie verstehen, wie die
kollektive Psyche die Leistungsgesellschaft geformt hat. Sie haben dann nicht mehr so sehr
den Fokus auf der "eigenen Schuld". Die konkrete Therapiearbeit ist dann schon fast "Fach-
wissen vermitteln".
Klienten die übers Fühlen Zugang zu sich haben, denen brauch ich meist nicht mit Fachwissen
kommen. Bei ihnen ist Traumarbeit am Schwierigsten, und ich lasse es dann. (Kann aber auch
damit zusammenhängen, dass ich ein "Kopfmensch" bin.)
Handlungsorientierte Klienten träumen gerne. Sie können dann "etwas tun". Ihnen gebe ich
schon mal eine Aufgabe mit. (z.B.: "Versuchen Sie mal im Traum nach Westen zu reisen")
Soweit mein Nähkästchen, danke für's Lesen.
@Pia
Über eine Traumdeutung ist der Klient beeinflussbarer als in einem Gespräch über
reale Begebenheiten, finde ich. Meine Erfahrung ist, dass hier weniger Widerstand
auftritt, also ja auch der "Schutz" nicht so gut funktioniert.
Ein neuer Aspekt für mich. Da muss ich mal drauf achten.
@Pia
... da fraut sich das Jungianer-Herz mal richtig
)))
Frau "fraut" sich ... Ist das nicht herrlich, ein freud'scher Versprecher zu C.G.Jung.
Pia, du hast meinen Tag gerettet!
@Pia
... was der Traum für diesen Menschen ganz persönlich meint.
Ja, klar. Damit keine Mißverständnisse entstehen: Ich glaube auch, dass der Traum den
Träumer meint. Ich bin mir nur nicht sicher, ob die Symbole die er verwendet, (nur) aus
dem persönlichen Erfahrungshorizont des Träumers stammen.
@Pia
Die Annahme, wenn der Kleint im Traum nach Westen geht, will er Richtung Natürlichkeit
gehen, ist mir ehrlich gesagt viel zu allgemein.
Klar, da steckt ja auch noch viel mehr dahinter. Das habe ich aus Platzgründen nicht
ausgeführt.
@Pia
Außerdem wäre das eher noch ein lösungsorientierter Ansatz als etwas Diagnostisches.
Kommt er, wenn er Richtung Natürlichkeit geht zwangsläufig aus dem Gegenteil und
welchen Störung wäre das dann?
Eine Diagnose stützt sich m.E. auf jeden Fall mal auf die Ergebnisse einer wirklich
ausführlichen Anamnese.
Ja, danke für den Hinweis. Ich habe da wohl den Begriff "diagnostisch" zu leichtferig
gebraucht. In diesem Zusammenhang meine ich damit nicht die Diagnose der Störungen
nach dem ICD-10, sondern allgemeiner "etwas über die Seele des Patienten erfahren".
Natürlich steht am Anfang eine klassische Anamnese und ein sauber erstellter
psychopathologischer Befund. Information aus Träumen ist nur eine der möglichen
Quellen. Das handhabe ich auch so.
@Pia
Außerdem wäre das eher noch ein lösungsorientierter Ansatz als etwas Diagnostisches.
Sehe ich auch so. Meiner Erfahrung nach zeigt der Traum nicht nur "Probleme" sondern
auch (vor allem sogar) seelische Ressourcen und Fähigkeiten. Und er zeigt m.E. nicht nur
den aktuellen Zustand, sondern sogar den Prozeß, der gerade läuft.
Danke an alle für die Rückmeldungen!
Dietmar